Nachgedacht Juli 2024

Geist­li­cher Impuls von Tho­mas Hilsberg

Monats­spruch Juli 2024

Du sollst dich nicht der Mehr­heit anschlie­ßen, wenn sie im Unrecht ist. (Exodus 23, 2; Einheitsübersetzung)

Quel­le: pixabay.com / gemeinfrei

„One man, one vote.“ Das ist eine wich­ti­ge Errun­gen­schaft der Demo­kra­tie. Jede Per­son hat eine Stim­me. Unab­hän­gig vom Geschlecht, von der Bil­dung oder dem sozia­len Sta­tus. Die Stim­men wer­den gezählt, und die Mehr­heit ent­schei­det. So weit, so gut.

Aber schon Fried­rich Schil­ler hat­te hier Beden­ken. Schil­ler schrieb: „Was ist die Mehr­heit? Mehr­heit ist der Unsinn. / Ver­stand ist stets bei weni­gen nur gewe­sen.“ Und er zieht dar­aus den prak­ti­schen Schluss: „Man soll die Stim­men wägen und nicht zählen.“

Damit hat er sich nicht durch­ge­setzt, und das ist gut so. Trotz­dem sind Schil­lers Beden­ken durch­aus berech­tigt. In der Tat kön­nen Mehr­heits­ent­schei­dun­gen ver­hee­rend sein. Popu­lis­ten ver­su­chen, die Men­schen zu mani­pu­lie­ren. Oder die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung drang­sa­liert eth­ni­sche Min­der­hei­ten. Natür­lich auf­grund kor­rek­ter demo­kra­ti­scher Abstim­mungs­er­geb­nis­se. Da geht es in der Poli­tik nicht anders zu, als in der Schu­le: Neun­und­zwan­zig von drei­ßig Schul­kin­dern fin­den Mob­bing voll in Ord­nung. Wir sehen: Die Mehr­heit hat nicht immer recht. Vol­kes Stim­me ist nicht unbe­dingt Got­tes Stimme.

Nicht nur Schil­ler hat mit dem Mehr­heits­prin­zip Pro­ble­me. Auch die Bibel übt hier Kri­tik: Du sollst dich nicht der Mehr­heit anschlie­ßen, wenn sie im Unrecht ist. Also lie­ber mit der unter­le­ge­nen Oppo­si­ti­on unter­ge­hen, als Unrecht unter­stütz­ten. Klar! Aber wer legt denn fest, was Recht und Unrecht ist?

Lege ich es selbst fest? Dann ist mei­ne fehl­ba­re Mei­nung der Maß­stab. Oder gar mein ego­is­ti­sches Inter­es­se. Wenn mir was gegen den Strich geht, gehe ich in den Widerstand.

Tau­sen­de von Nach­bar­schafts­strei­te­rei­en zei­gen, wo man damit hinkommt.

Noch­mals: Wer legt fest, was Recht und Unrecht ist? Die nahe­lie­gen­de Ant­wort lau­tet: Die Mehr­heit natür­lich. Aber hier beißt sich die Kat­ze in den Schwanz. Wir haben doch gera­de gese­hen, dass die Mehr­heits­mei­nung nicht unbe­dingt Recht hat.

Nein. Recht und Unrecht muss eine Insti­tu­ti­on fest­le­gen, die über der Mehr­heit steht. Das Böcken­för­de-Dilem­ma bringt es auf den Punkt: „Der frei­heit­li­che, säku­la­ri­sier­te Staat lebt von Vor­aus­set­zun­gen, die er selbst nicht garan­tie­ren kann.“ Für Isra­el war das das Gesetz Got­tes. Kein Zufall, dass der zitier­te Satz nur drei Kapi­tel nach den Zehn Gebo­ten steht. Aber das alte Isra­el war eben kein säku­la­ri­sier­ter Staat.

Was sind die Vor­aus­set­zun­gen, die bei uns über dem Mehr­heits­wil­len ste­hen? Die Ver­fas­sung? An die­ser Stel­le mei­ne Segens­wün­sche für unser Grund­ge­setz zum 75. Geburts­tag! Trotz­dem: Auch eine Ver­fas­sung kann mit ent­spre­chen­der Mehr­heit geän­dert wer­den. Und schon beißt die Kat­ze wie­der zu.

Wie wäre es mit den all­ge­mei­nen Men­schen­rech­ten? Aber auch die sind nicht in Erz gegos­sen. Wenn eine gro­ße Mehr­heit gegen sie votie­ren würde…

Der Wil­le Got­tes steht natür­lich über dem Mehr­heits­wil­len. Kon­kret die Zehn Gebo­te und die Berg­pre­digt Jesu. Hier sind die Maß­stä­be für gut und böse. Für uns Chris­ten soll­te das klar sein. Ande­re frei­lich wür­den die Scha­ria vor­zie­hen. Und Anders- oder Ungläu­bi­ge wür­den bei­des dan­kend ableh­nen. Wir sehen: Böcken­för­de hat­te recht. Der Staat kann sei­ne Vor­aus­set­zun­gen nicht garan­tie­ren. Wenn sie noch da sind, ist es Gna­de. Wenn sie ero­die­ren, gna­de uns Gott!

Doch wie gehen wir als Chris­ten mit dem Pro­blem um? Prin­zi­pi­ell gilt erst­mal: Wir sind dank­bar für die Demo­kra­tie und ach­ten Mehr­heits­ent­schei­dun­gen. Und wir sind dank­bar für den Rechts­staat und ach­ten die Geset­ze. Aber wir eichen unser Gewis­sen an Got­tes Wort. An den Zehn Gebo­ten und an der Berg­pre­digt. An den Wei­sun­gen der Apos­tel. Und gern auch an Luthers Aus­le­gun­gen der Gebo­te. Denn da lernt man nicht nur, das Böse zu ver­mei­den. Luther erklärt auch, wie man ganz prak­tisch Lie­be üben kann.

So kön­nen wir leben, ohne anzu­ecken. Und so kön­nen wir uns auch in die poli­ti­schen Dis­kus­sio­nen ein­brin­gen. (An die­ser Stel­le bin ich gespannt, ob und wie sich die Kir­chen in den anste­hen­den Debat­ten um den Schutz des unge­bo­re­nen Lebens äußern werden!)

Was aber, wenn sich die Mehr­heit gegen Got­tes Recht stellt? Da sagt uns der Monats­spruch ganz klar: Wir dür­fen ihr nicht fol­gen. Ganz gleich, ob es die Mehr­heit der Klas­se ist, der Mob auf der Stra­ße oder eine kla­re Par­la­ments­mehr­heit. Hier gilt das Bibel­wort: Man muss Gott mehr gehor­chen, als den Men­schen. Das kann natür­lich sei­nen Preis haben. Den müs­sen wir dann bereit sein zu zah­len. Im Ver­trau­en dar­auf, dass sich Treue Gott gegen­über lang­fris­tig aus­zahlt. Sol­che Treue wün­sche ich uns!

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